Meldung

Offener Brief des Oberbürgermeisters Silvio Witt zum Hissen nationalsozialistischer Symbole

Liebe Neubrandenburgerinnen und Neubrandenburger,

meine erste Regenbogenfahne bekam ich als 15-jähriger Schüler am Sportgymnasium Neubrandenburg in Form eines Pins geschenkt. In einer Biologiestunde war die Deutsche Aidshilfe zu Gast und hat uns zum Thema HIV/AIDS aufgeklärt. Dies war im Jahr 1993.

Zu dieser Zeit durften homosexuelle Handlungen unter Männern laut Paragraf 175 des Strafgesetzbuches noch verfolgt und geahndet werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führte Homosexualität noch bis 1990 als Krankheit auf.

Diesen Pin mit der Regenbogenfahne erhielt ich demnach in sehr bewegenden Zeiten und habe ihn noch heute, 30 Jahre später. Ich trage ihn gelegentlich. Vor allem am 1. Dezember, dem Welt-AIDS-Tag.

Für mich ist die Regenbogenfahne ein Symbol, wie sich unser Land in den vergangenen Jahren weiterentwickelt hat. In vielen Bereichen. Denn die Regenbogenfahne ist ein inklusives Symbol. Sie steht für Toleranz, Offenheit und Vielfalt. Die gesellschaftlichen Entwicklungen betreffen eben nicht nur queere Menschen, sondern uns alle! Wir reden von der Inklusion von Menschen mit Handicap, von einem größeren Bewusstsein für Umwelt- und Naturschutz, von der Gleichstellung und vielen anderen Sachverhalten. Bei all diesen Themen haben wir einiges erreicht, aber vieles noch vor uns. Eine Demokratie lebt von der Weiterentwicklung.

Genau deshalb ist eine an sich arbeitende, tolerante, offene, vielfältige und vor allem demokratische Gesellschaft so wichtig.

Das Entfernen der Regenbogenfahne am Neubrandenburger Bahnhof war ein wiederholter symbolischer Akt der Intoleranz.

Das Hissen von nationalsozialistischen Symbolen am Neubrandenburger Bahnhof ist ein Tabubruch!

Dies ist nicht Neubrandenburg.

Mich haben die rechtfertigenden Kommentare in den sozialen Medien nach der Pressemitteilung der Stadtverwaltung zu diesem Vorfall, die den Stil „Ja, aber…“ an den Tag legten, zusätzlich erschüttert. Das dunkelste Kapitel in der deutschen Geschichte lässt kein „Ja, aber…“ zu. Niemals!

Schon seit längerer Zeit nutzen Feinde der Demokratie die Möglichkeiten der Demokratie aus. Sie nutzen die Toleranz unserer Gesellschaft für ihre Intoleranz. Dagegen müssen wir uns viel stärker positionieren und wehren!

Das Wesen der Demokratie ist der Diskurs. Dieser Diskurs hat jedoch Regeln und Grenzen. Behauptungen, Herabsetzungen, Beleidigungen, Schmähungen oder gar Drohungen sind das Gift der Demokratie. Dieses Gift wird seit Jahren, insbesondere im Internet, verabreicht und gefährdet die Grundfesten unseres Miteinanders.

Selbstverständlich darf und muss man das Handeln der Säulen unseres Staates kritisieren. Jedoch dürfen dabei Grundsätze und menschliche Gepflogenheiten nicht außer Acht gelassen werden. Nur durch sie findet der Diskurs in einem sicheren Rahmen statt.

Vor 84 Jahren kamen die ersten Kriegsgefangenen in Neubrandenburg an. Sie wurden vom Bahnhof ins Lager Fünfeichen getrieben. Manch einer hat bereits diesen Weg nicht überlebt. Am Ende des Krieges durchliefen rund 70.000 Gefangene das Lager. 6.500 überlebten es nicht. Unsere Stadt hat in der Zeit des Nationalsozialismus Schuld auf sich geladen. Seit vielen Jahren investieren wir viel Zeit und Geld, um den Opfern einen Teil ihrer Würde zurückzugeben, in dem aus namenlosen Massengräbern, Gedenkorte werden, die die Namen der Menschen zurück ins Gedächtnis und Bewusstsein holen. Fünfeichen ist einer dieser Orte und jede Neubrandenburgerin und jeder Neubrandenburger sollte ihn mindestens einmal gesehen haben.

Die Brutalität, Herabsetzung und Menschenverachtung des nationalsozialistischen Systems fand hier in unserem Neubrandenburg statt. Vor den Augen der Bevölkerung!

Liebe Neubrandenburgerinnen und Neubrandenburger, lassen Sie uns gemeinsam alles dafür tun, dass sich diese Geschichte nie wiederholt.

Lassen Sie uns den demokratischen Diskurs engagiert leben, aber protestieren wir deutlich, wenn Feinde der Demokratie mit Intoleranz und Hetze die im Grundgesetz definierten Pfeiler unseres Staates gefährden.

Lassen Sie uns empathische Menschen sein, die immer wieder versuchen, die Position des anderen zu verstehen, auch wenn es schwerfällt.

Lassen Sie uns in den nächsten Tagen und Wochen ein umso deutlicheres Zeichen in die Welt senden, dass die Vier-Tore-Stadt Neubrandenburg eine tolerante, inklusive, weltoffene, liebenswerte und vor allem menschliche Heimat ist!

Silvio Witt
Oberbürgermeister

Foto: © Gilberto Pérez Villacampa

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert